Als Störung der Impulskontrolle oder Impulskontrollstörung wird in der Psychiatrie eine Verhaltensstörung bezeichnet, bei der ein unangenehmer Anspannungszustand durch ein impulsiv ausgeübtes Verhalten aufgelöst wird. Das impulsive Verhalten wird zwanghaft, fast automatisch ausgeführt. Es ist zwar eine bewusste Handlung, kann aber willentlich nicht oder nur schwer beeinflusst bzw. verhindert werden. Zu diesen Impulskontrollstörungen gehören unter anderem folgende, oft gravierende Verhaltensstörungen, die dem Betroffenen und seiner Familie schwere Schäden zufügen können:
- Spielsucht, pathologisches Spielen
- Kaufrausch, Kaufsucht
- Hypersexualität, „Sexsucht“
Die genannten Störungen sind auch in der gesamten Bevölkerung verbreitet. Es wurde aber öfter beobachtet, dass Parkinson-Patienten, aber auch Restless-Legs-(RLS-)Patienten unter Dopamin-Agonisten oder L-Dopa-Medikation die genannten Verhaltensstörungen entwickeln können.
Diese Beobachtungen aber auch Tierversuche geben wichtige Hinweise darauf, dass das Dopamin-System auf die Steuerung des menschlichen Verhaltens maßgeblichen Einfluss hat. Der Botenstoff Dopamin ist nicht nur in dem motorischen System aktiv, sondern auch im so genannten Belohnungssystem. Als Auslöser der Impulskontrollstörungen wird bei Parkinsonpatienten die lang andauernde, wiederholte Stimulation des Belohnungssystems durch L-Dopa oder durch Dopamin-Agonisten diskutiert. Diese unerwünschte Wirkung hat man in erster Linie mit dem stärkeren Effekt der Medikamente auf die so genannten D3-Rezeptoren in Verbindung gebracht. Sie treten auch unter der Medikation mit L-Dopa und mit sämtlichen Dopamin-Agonisten auf. Sogar unter der Tiefenhirnstimulation wurde Spielsucht beschrieben. Diese Nebenwirkung wird in der Zwischenzeit auch in allen Beipackzetteln dieser Medikamente beschrieben.
Im Gegensatz zu den anderen verschiedenen Suchtverhalten sind diese Störungen im Allgemeinen reversibel, das heißt, dass sie nach dem Absetzen des auslösenden Mittels verschwinden können.
Glücklicherweise ist aber nur ein kleinerer Teil der mit L-Dopa oder Dopamin-Agonisten behandelten Parkinson- und RLS-Patienten von diesen Problemen betroffen. Dementsprechend haben die Forscher bestimmte Faktoren gesucht, die ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung der Impulskontrollstörungen bilden. Das Suchtverhalten der Patienten scheint aufgrund dieser Erkenntnisse mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur in Zusammenhang zu stehen, wie z.B. die Risikofreudigkeit und das Interesse an Neuem. Weitere prädisponierende Faktoren waren das jüngere Erkrankungsalter, die hohe Dosierung von Dopamin-Agonisten oder L-Dopa, der Alkohol- und Drogenmissbrauch, manische Schübe, eine Depression in der Vorgeschichte oder in der Familie.
Der behandelnde Arzt sollte deshalb schon bei der ersten Verschreibung der Medikamente nach dem Vorliegen dieser Risikofaktoren fragen und die gefährdeten Patienten auch während der Behandlung bezüglich dieser Verhaltensstörungen im Auge behalten, um gegebenenfalls rechtzeitig eingreifen zu können.
Die Therapie der Impulskontrollstörungen besteht im Allgemeinen in dem Absetzen des auslösenden Mittels. Vollständige Rückbildung wurde beim Wechsel des Dopamin-Agonisten auf einen anderen oder auf L-Dopa erreicht. Manchmal sind Abstriche bei der motorischen Wirkung als Folge der Dosisreduktion oder des Wechsels des Dopamin-Agonisten notwendig. Atypische Neuroleptika (Quetiapin, Clozapin) können hilfreich sein. Bei extremer Hypersexualität kann eine hormonelle Behandlung notwendig werden.
Die rechtzeitige Behandlung ist außerordentlich wichtig, weil die genannten Verhaltensstörungen zu erheblichen finanziellen Schäden führen, die Patienten mit dem Gesetz in Konflikt bringen, die Familie und den sozialen Status des Patienten zerstören.
Spielsucht
Die bei Parkinson-Patienten am häufigsten beobachtete Impulskontrollstörung ist das pathologische Spielen bzw. die Spielsucht. Statistisch gesehen kommt diese Störung bei 6-7 % der mit Dopamin-Agonisten oder mit L-Dopa behandelten Patienten vor.
Das pathologische Spielen ist durch folgende Merkmale charakterisiert:
- das Spielen ist mit einer ständigen gedanklichen Beschäftigung bezüglich Spieltechniken und Geldbeschaffung verbunden
- Versuche, dem Spieldrang zu widerstehen, scheitern wiederholt
- die Verhinderung des Spielens führt zum Unwohlsein, zur Gereiztheit
- das Spielen selbst wird vor Familienangehörigen, Therapeuten verheimlicht
- das Spielen verursacht schwerwiegende finanzielle Konsequenzen
- das Spielen wird durch ungesetzliche Handlungen, Straftaten finanziert
- der Spieler erwartet, dass Familienangehörige, Freunde, Bekannte ihm das Geld „ein letztes Mal“ beschaffen oder die Schulden begleichen
- Zerbrechen von Beziehungen
- Gefährdung des sozialen Status
Das Spielen selbst dient auch dazu, Problemen oder negativen Stimmungen zu entkommen; immer höhere Beträge werden eingesetzt, um Spannung und Erregung aufrecht zu erhalten.
In der Literatur sind Fälle bekannt, wo Parkinson-Patienten mehrere 100.000 Dollar verspielt haben. Auch in diesen Fällen verschwand aber die Spielsucht nach Absetzen des auslösenden Mittels.
Besondere Gefährdung bedeuten im Bezug auf die Spielsucht das Internet und die Spielautomaten.
Kaufsucht
Die Kaufsucht ist eine psychische Störung, die sich als zwanghaftes Kaufen von Waren oder Dienstleistungen äußert. Die Einkäufe sind häufig auch unsinnig oder in der Menge überflüssig. Nicht der Besitz der Güter ist das Ziel, sondern die Befreiung von einem Drang durch den Kauf. Eine willentliche Beeinflussung ist schwierig oder sogar oft unmöglich. Die Behinderung des Kaufens führt zu vegetativen Erscheinungen, zum Unwohlsein. Die Kaufsucht wird heutzutage durch den Internethandel und die Versandhäuser begünstigt und führt zur hoffnungslosen Überschuldung und sogar zu kriminellen Handlungen und dadurch zur Zerstörung der Existenz der Betroffenen.
Diese Verhaltensstörung ist bei Parkinson-Patienten als unerwünschte Wirkung der Therapie seltener. In einem unserer Fälle war dieser Kaufzwang mit einer krankhaften „Schenkungssucht“ verbunden, die Patientin hatte sich hochgradig verschuldet, um anderen, auch Fremden ständig Geschenke geben und sie z.B. zu Urlaubsreisen einladen zu können.
Hypersexualität, „Sexsucht“
Die Libido steigernde Wirkung von L-Dopa und der Dopamin-Agonisten ist hinreichend bekannt. Sie führt häufig zu erheblichen Komplikationen in der Partnerschaft, umso mehr, weil die Libidosteigerung häufig im Gegensatz zur bestehenden Potenzstörung steht.
Die Hypersexualität wird in der Medizin als krankhaft gesteigertes sexuelles Verlangen bzw. sexuelles Handeln bezeichnet und ist eine von den Impulskontrollstörungen. Sie zeigt sich in unkontrolliertem Genuss von Pornographie und Telefonsex, in übermäßiger Selbstbefriedigung und in ausufernden Sexualkontakten. Einige „Sexsüchtige“ beschäftigen sich fast den ganzen Tag mit entsprechenden, manchmal ausgefallenen Tätigkeiten, streben vielmals täglich Orgasmen an, ohne Befriedigung zu finden. Dies geht häufig so weit, dass Partnerschaft, Familie, Beruf und soziale Kontakte vollständig vernachlässigt werden. Diese Verhaltensstörung kann auch zu verheerenden finanziellen Belastungen führen und sogar strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Bei Parkinson-Patienten traten unter Dopamin-Agonisten bzw. unter L-Dopa sexuelle Verhaltenstörungen in Form von extrem häufigen Bordellbesuchen, unkontrollierten Telefonsex-Kontakten mit gewaltigen Telefonrechnungen, ständig wechselnden Sexualkontakten, übertriebener Selbstbefriedigung, Überforderung der Partner und Belästigung der Pflegepersonen auf.
Punding
Als „Punding“ wird eine weitere Verhaltensstörung beschrieben, die durch komplexe, nicht zielgerichtete Handlungen charakterisiert ist. Punding gehört zu den so genannten stereotypen Handlungen. Häufig ist ein Bezug auf den Beruf des Patienten zu finden.
Auch bei Parkinson-Patienten wurde diese Verhaltensstörung beobachtet, in erster Linie unter Behandlung mit Dopamin-Agonisten oder L-Dopa. Die übertriebenen stereotypen Handlungen (z.B. Basteln, Malen, Handarbeit) sind von den Patienten nicht kontrollierbar. Diese Tätigkeiten nehmen häufig auch die Nacht in Anspruch und bereiten für die Angehörigen Probleme. In der Psychiatrie ist diese Verhaltensstörung von der Manie und von den Zwangshandlungen zu unterscheiden. Die Therapie besteht auch bei dieser Störung aus Reduzierung oder Wechsel des dopaminergen Mittels.
Zuletzt müssen wir die Bedeutung der aufgezählten Verhaltensstörungen, die auch bei den mit L-Dopa oder Dopamin-Agonisten behandelten Parkinson-Patienten – wahrscheinlich beim Vorliegen von bestimmten Risikofaktoren – auftreten können, noch einmal betonen. Die Vermeidung oder das frühzeitige Erkennen dieser unerwünschten Wirkungen der sonst so effektiven Therapie kann dem betroffenen Patienten schwerwiegende Komplikationen ersparen.
Stand Juni 2012 | Dr. Ferenc Fornadi, Gertrudis-Klinik Biskirchen