Anforderungen und Belastungen
Von Prof. Dr. H. Ellgring und Dipl.-Psych. S. Tucha
Jede Angehörige, jeder Angehörige erlebt es immer wieder und unmittelbar: Es ist nicht die Krankheit allein. Angehörige von Parkinson-Patienten sehen sich einer Vielzahl von Anforderungen und Belastungen ausgesetzt. Es ist nicht nur die Betreuung und Pflege des Patienten, die von Partnern (sehr häufig Ehefrauen) oder Kindern über Jahre hinweg geleistet wird. Dabei ändern sich diese Anforderungen immer wieder mit dem chronisch-progredienten Verlauf des neurodegenerativen Prozesses. Diese Veränderungen betreffen Patienten und Angehörigen gleichermaßen. Darin sind Angehörige über lange Zeit mit dem Parkinson-Patienten durch die Erkrankung in besonderer Weise verbunden.
Hier sollen stichwortartig einige Aspekte angesprochen werden, die die Situation der Angehörigen etwas deutlicher machen und Anregungen für die gemeinsame Bewältigung der Krankheit geben können. Es geht dabei um:
1. Veränderungen und Belastungen, die sich durch die Erkrankung ergeben
2. Umgang mit Problemen und deren Bewältigung
3. Psychologische Beratung und Interventionen für Angehörige
4. Ziele und Wege für die gemeinsame Krankheitsbewältigung.
Selbstverständlich steht die medizinische Behandlung der motorischen Funktionen des Parkinson-Patienten im Vordergrund. Dennoch: Das Krankheitsgeschehen findet ganz wesentlich im sozialen Raum statt, d. h. gemeinsam mit den Angehörigen, den Kindern, den Bekannten und Freunden.
Ein wesentliches Merkmal der Veränderungen im Krankheitsverlauf ist es leider, dass man nur kurzfristig mit Verbesserungen rechnen kann, langfristig dagegen Verschlechterungen erwarten muss. Daraus folgt zweierlei: Zum einen sind einige der nachfolgend skizzierten Punkte für manche nicht unmittelbar zutreffend und man kann sich vielleicht sagen: „Glücklicherweise trifft das für uns nicht zu. Also brauche ich mich damit nicht zu beschäftigen.“
In diesem Fall genügt es in der Tat, dass man um diese Themen weiß, sodass man, falls die Probleme auftreten, nicht davon überwältigt wird.
Wichtiger aber wäre eine zweite Folgerung, nämlich dass man aus dem augenblicklichen Zustand das Bestmögliche macht. Ein wichtiges Prinzip dabei ist zu beobachten und zu fragen: „Was ist (noch) möglich? Was kann ich tun? Woran können wir uns freuen? Wie kann ich die Zeiten, in denen es mit den Parkinson-Symptomen (relativ) gut geht, in positiver Weise nutzen?“
1. Veränderungen und Belastungen durch die Erkrankung
Bereits mit der Diagnose verändert sich die Situation der Angehörigen. Einerseits ist man erleichtert, dass nun klarer wird, worauf man die motorischen Schwierigkeiten zurückführen kann. Vor allem kann man auf die angemessene medizinische Behandlung setzen. Es ist bewundernswert, mit welch positiver Einstellung diese oft lange dauernde Phase der Erkrankung auch von den Angehörigen genutzt wird.
Hinweise auf die Art und den Umfang von psychischen Belastungen der Angehörigen durch die Parkinson-Erkrankung kann man einer bundesweiten Umfrage entnehmen. Bei einer Stichprobe von 200 Angehörigen ergaben sich folgende Themen (nach Ellgring, Oertel, Ploog & Struppler 1989, in: Macht & Ellgring, Verhaltenstherapie bei der Parkinson-Erkrankung, München: Elsevier, 2018, S.85), die jeweils von mehr als 70 Prozent der Angehörigen als Belastung erlebt wurden:
Belastungen aufgrund der körperlichen Symptome | |
---|---|
Einschränkung der Aktivitäten wegen Erkrankung des Partners | 86% |
Übernahme von Pflichten und Entscheidungen | 72% |
Emotionale Belastungen | |
Angst, selbst zu erkranken | 94% |
Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung des Partners | 90% |
Probleme in der Partnerschaft | |
Empfindlichkeit des Partners | 90% |
Ungeduld im Umgang mit dem erkrankten Partner | 83% |
Ängstlichkeit des Partners | 82% |
Schwieriger Umgang mit Unselbstständigkeit des Partners | 80% |
Weniger gemeinsame Aktivitäten | 76% |
Nach der Diagnose setzen zunächst die Sorge und die Unsicherheit ein, wie es weitergehen wird. Denn schließlich wird einem mehr und mehr bewusst, dass die Parkinson-Erkrankung chronisch-progredient ist. Man muss also mit Verschlechterungen des Zustands rechnen. Die Besorgnis und die Unsicherheit wachsen: „Wie wird es weitergehen?“ Die Lebensplanung und die Gestaltung des Alltags werden immer stärker durch die Erkrankung bestimmt. Man muss als Angehöriger mehr Verpflichtungen übernehmen, als man gewohnt ist. Bei den eigenen Interessen und dem, was man in der Freizeit tut, muss man die Erkrankung immer mitbedenken. Für die Angehörigen stellen sich immer wieder die Fragen: Wie eigenständig kann ich meine Dinge tun? Wie abhängig bin ich selbst durch die Erkrankung?
Die allgemeine Verlangsamung des Patienten sowohl in der Motorik als auch im Denken erfordert immer mehr Geduld. In der Pflege kann es eine große Herausforderung sein, nicht dem Helfersyndrom zu erliegen: Nicht nur muss man vermehrt Aufgaben und Pflichten übernehmen, die früher der Partner erledigt hat. Man fühlt sich mehr noch für alles verantwortlich, auch für Dinge, die man nicht beeinflussen kann oder eigentlich nicht beeinflussen will. Eine häufige, scheinbar banale Situation ist z. B. der Aufbruch zum gemeinsamen Spaziergang. Der Patient, nennen wir ihn Herrn T., versucht den Mantel zu knöpfen, was nicht so recht gelingen will. Frau T. springt ungeduldig bei: „Lass mich doch machen!“ Herr T. ärgert sich und verkrampft noch mehr. Ärgerlich knöpft Frau T. den Mantel, Herr T. erduldet es unwirsch usw. usf. Es könnte eine solche Situation entspannen, wenn Frau T. sich und dem Patienten sagen könnte: „Wir nehmen uns einfach Zeit. Sage mir, wenn ich dir helfen soll.“
Als schmerzliche Erfahrung werden vielfach die sozialen Folgen der Erkrankung erlebt. Man bemerkt einen sozialen Rückzug bei Freunden und Bekannten und erlebt eine soziale Isolation. Es belastet zusätzlich, wenn Angehörige den Eindruck haben, dass die eigene Familie ihre Situation mit all den Anforderungen und Belastungen nicht versteht. Besonders wertvoll ist es dann, positive Zuwendung und Unterstützung zu erfahren, vielleicht auch manchmal von Personen, von denen man es nicht erwartet hat. Auch Selbsthilfe- oder Angehörigen-Gruppen (s. u.) erweisen sich als hilfreich, dieser sozialen Isolation entgegenzuwirken.
Psychische Belastungen durch Symptomatik und Emotionalität des Patienten
Mit den allgemeinen zentralen Merkmalen der Parkinson-Erkrankung – das Zittern (Tremor), die Bewegungsverlangsamung bzw. Unbeweglichkeit (Bradykinese bzw. Akinese), die Muskelsteifigkeit (Rigidität) und die Gleichgewichtsstörungen (posturale Instabilität) – müssen auch die Angehörigen lernen umzugehen. Darüber hinaus sind es aber zusätzliche psychische Auswirkungen der Erkrankung, die für die Angehörigen erhebliche Belastungen mit sich bringen. Es sind Veränderungen im Verhalten, im Denken und in den Gefühlen, die z.T. spezifisch für die Parkinson-Erkrankung sind.
Die Verlangsamung in den Handlungsabläufen des Patienten erfordert zusätzliche Geduld im Umgang miteinander. Eine Verlangsamung ist darüber hinaus auch in den Denkabläufen zu bemerken. Dies ist zwar nicht zu verwechseln mit einer Demenz, also einer Störung der Denkabläufe. Dennoch erschwert diese Verlangsamung die gemeinsame Kommunikation ungemein.
Als Beispiel für die Konsequenzen aus dieser Verlangsamung des Denkens kann eine Unterhaltung mit Bekannten dienen: Es wird über ein Thema gesprochen. Der Patient möchte auch dazu beitragen, braucht aber dafür etwas länger. Inzwischen hat das Thema aber schon gewechselt. Der Patient denkt: „Jetzt passt mein Beitrag auch nicht mehr.“ Und schweigt. Die anderen nehmen das als Desinteresse wahr, als Apathie oder gar beginnende Demenz. Der Patient zieht sich weiter zurück, die Angehörigen sind genervt oder enttäuscht. Als Angehöriger wird man unsicher: Wann und wie kann ich den Patienten noch im Gespräch einbeziehen?
Auch die Antriebslosigkeit oder eine geringe emotionale Belastbarkeit des Patienten erleben Angehörige als eigene emotionale Belastung. Sie sind mit Stimmungsschwankungen oder depressiven Verstimmungen oder Ängsten des Patienten konfrontiert, die auf die eigene Befindlichkeit durchschlagen.
Aus einer fehlenden Krankheitseinsicht des Patienten, mit der Probleme verdrängt oder verleugnet werden, ergeben sich wiederum schwierige Situationen, etwa dass der Patient seine eigenen Fähigkeiten oder seine Geschicklichkeit überschätzt und mit gefährlichen Dingen hantiert. Angehörige berichten auch von Situationen, in denen der Patient als „Provokateur“ erscheint. Wenn etwa der fiktive Herr T. ausgerechnet dann stürzt, während Frau T. allein beim Einkaufen war.
Eigene emotionale Reaktionen
Aus Situationen wie der zuvor geschilderten entstehen bei Angehörigen Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen. Unabhängige Unternehmungen erscheinen nicht mehr möglich. Das wiederum führt zu einer Einschränkung der eigenen Bedürfnisse. Bedenken, den Patienten allein zu lassen, nehmen zu. Aus den eigenen Ängsten entstehen Stimmungsschwankungen und depressive Verstimmungen. Existenzängste und die Bedenken, den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein, bedrücken den Alltag. Auch Scham vor Freunden und Nachbarn erschwert manchen Angehörigen das Leben. Eine Furcht vor der eigenen Schwäche kann den Alltag begleiten. Man fragt sich: Was wird sein, wenn ich einmal krank sein sollte? Wie lange kann ich Belastungen aushalten?
Wesentlich für die eigenen körperlichen und seelischen Reaktionen auf die vielfältigen Anforderungen und Belastungen durch die Betreuung und Pflege sind die Stress-Merkmale. Und Stress-Reaktionen sind gekennzeichnet durch erhöhte körperliche Anspannung, physiologische Erregung und eine erhöhte Vulnerabilität für Erkrankungen. Stress-Reaktionen sind außerdem dadurch gekennzeichnet, dass das eigene Verhalten impulsiver, weniger gezielt und durchdacht erfolgt.
Für die eigene seelische Gesundheit ist es hilfreich, sich diese emotionalen Reaktionen bewusst zu machen: vor allem zu sehen, dass sie auch von anderen in vergleichbaren Situationen erlebt werden, dass solche Reaktionen normal und nachvollziehbar sind.
Umgang miteinander
Die Parkinson-Erkrankung stellt den Umgang miteinander vor erhebliche Herausforderungen. Die Einschränkung des eigenen Freiraums kann zu Schwierigkeiten in der Beziehung beitragen. Nicht nur durch die Denkverlangsamung (Bradyphrenie) verändert sich die Kommunikation. Die stärkere Abhängigkeit des Patienten von der Familie, sein Wunsch nach vermehrter Zuwendung und Aufmerksamkeit verdichten sich zu einem Abhängigkeitsverhalten, das vielleicht gar nicht so dem entspricht, was man zuvor miteinander gewohnt war. Die Ungeduld mit dem Partner nimmt zu und erschwert die Beziehung.
Der Bereich der Sexualität würde ein eigenes Kapitel erfordern. Problematisch wird es, wenn beide Partner unterschiedliche Erwartungen entwickeln. Immer wieder berichten Frauen, dass der Parkinson-Patient ein erhöhtes Verlangen nach sexuellem Umgang zeigt. Parkinson-Patientinnen wiederum nehmen auch bei sich gelegentlich ein irritierendes sexuelles Verlangen wahr. Da hierbei die Wirkung bestimmter Medikamente eine Rolle spielt, sollten Angehörige und Patienten dies mit dem behandelnden Arzt besprechen, sofern solche Empfindungen und Verhaltensweisen als unangenehm bzw. problematisch erfahren werden. Auch eine psychologische Partnerberatung kann angezeigt sein. Wichtig wäre, dass auf der Beratungsseite Kenntnisse über die Parkinson-Krankheit vorhanden sind.
2. Umgang mit Problemen und deren Bewältigung
Aus psychologischer Sicht stellen sich an dieser Stelle Fragen, wie die Belastungssituationen für Angehörige verbessert werden können. Es gibt eine Vielfalt von Möglichkeiten, sich zu entlasten, von denen man allerdings nicht erwarten kann, dass sie einen unbeschwerten Zustand wie zuvor wiederherstellen können. Sie können aber zu einer besseren Bewältigung der eigenen Situation und der des Patienten beitragen. An erster Stelle stehen neben den medizinischen einige wesentliche psychologische Informationen für Angehörige. Darüber hinaus sollen durch psychologische Beratung und Interventionen Möglichkeiten der Problembewältigung erarbeitet werden mit der Option, den eigenen Freiraum zu bewahren und für die eigenen Kraftreserven zu nutzen.
Psychologische Informationen für Angehörige
Solche Informationen sollen helfen, die eigene Situation und die des anderen besser zu verstehen, Probleme klar zu erkennen und zu benennen. Sie erleichtern es, sich die eigenen Einstellungen und Gefühle bewusst zu machen und auch negative Gefühle zu akzeptieren.
Zum Verständnis für die Psychologie der Parkinson-Erkrankung ist es hilfreich, Zusammenhänge von Teilen der Parkinson-Symptomatik und psychologischen Faktoren aufzuzeigen. Zwei Symptome sind besonders für Angehörige bemerkbar und führen zu teilweise erheblichen Missverständnissen. Es sind dies:
a) die Stressabhängigkeit der motorischen Symptomatik sowie von Bewegungsblockaden und
b) die Dissoziation von Ausdruck und Erleben.
Die Stressabhängigkeit der motorischen Symptomatik erlebt jeder Parkinson-Patient immer wieder. Es kann die Zunahme des Zitterns bei einer einfachen Begrüßung sein oder beim Bezahlen an der Kasse; die Bewegungsblockade tritt plötzlich und unerwartet vor einem Türdurchgang auf. Für Patienten wie Angehörige ist es zunächst nicht nachvollziehbar, warum in solch einfachen Situationen die Parkinson-Symptomatik so extrem zunimmt. Man kann davon ausgehen, dass minimale Stressoren ausreichen, die motorischen Abläufe zu stören.
Viele Patienten haben verschiedene Tricks und Strategien entwickelt, wie sie z. B. über die Blockaden hinwegkommen. Für Angehörige – aber auch für Patienten – sind in manchen Situationen die Stressoren jedoch nicht nachvollziehbar: Warum setzt die Bewegungsblockade gerade in dem Moment ein, in dem man gemeinsam aus dem Haus gehen möchte? Das ist doch böser Wille!, denkt man. Auch der Versuch des Patienten, die Blockade durch vermehrte Anstrengung zu überwinden, bewirkt hier eher das Gegenteil.
Hier kann es hilfreich sein, sich den Zusammenhang zwischen – kaum erkennbaren, minimalen – Stressoren und der Motorik vor Augen zu führen. Normalerweise würde man die Begrüßung eines Bekannten weder als Patient noch als Angehöriger als „Stressor“ wahrnehmen. Dennoch verstärkt die Parkinson-Erkrankung ganz erheblich die Sensitivität in diesem Bereich. Das erfordert z. B. in Situationen wie dem Verlassen des Hauses, Anziehen etc., sich wesentlich mehr Zeit zu nehmen.
Eine weitere Besonderheit der Parkinson-Krankheit ist eine Dissoziation von Ausdruck und Erleben von Gefühlen, d. h. eine Entkoppelung von subjektivem Erleben und dem mimischen und stimmlichen Ausdruck der Gefühlszustände. Durch Verminderung der mimischen Motorik im Verlauf der Erkrankung wirkt das Gesicht des Patienten maskenhaft und starr. Auch die Stimme wird leiser und immer weniger moduliert. Dies führt bei anderen zu dem Eindruck, dass der Patient wenig interessiert ist oder gar depressiv.
Einige Angehörige sagen: „Ich weiß gar nicht, woran ich bin. Freut sich mein Partner, oder ärgert er sich?“ Oder:„Ich glaube, mein Partner ist nicht mehr ehrlich.“ Patienten, die diese Einschränkungen bei sich bemerken, sagen: „Ich kann meine Persönlichkeit nicht mehr richtig ausdrücken.“ Es ist schwer, sich gegen diesen Eindruck zu wehren. Aber für Angehörige ist es hilfreich zu wissen: Parkinson-Patienten sind sehr wohl in der Lage, Gefühle zu erleben. Manche Patienten berichten auch, dass sie diese sogar viel intensiver erleben. Und wenn man in Rechnung stellt, wie sensibel die Motorik auf minimale Stressoren reagiert (s. o.), hat diese Aussage sehr wohl ihre Berechtigung.
Auch Veränderungen durch die Erkrankung – wie Schlafstörungen, medikamentös induzierte Halluzinationen oder Impulskontrollstörungen – führen zu erheblichen Belastungen und Irritationen für die Angehörigen.
Fallbeispiel: Der 62-jährige Herr L., Diplom-Ingenieur in ehemals leitender Funktion mit Personalverantwortung, aktuell noch berufstätig im Verwaltungsbereich, wendet sich hilfesuchend an eine Psychotherapie-Praxis mit neuropsychologischem bzw. Parkinson-spezifischem Schwerpunkt. Die Diagnose habe er seit ca. zwölf Jahren, es habe mit einem leichten Zittern begonnen, das vor allem beim Abhalten von Präsentationen aufgefallen sei. Aufgrund der Medikation habe er im Verlauf unter Einschlaf-Attacken, auch beim Autofahren, sowie teilweise ausgeprägten Impulskontrollstörungen gelitten. Nach einer Tiefen Hirnstimulation vor zwei Jahren konnte die Medikation verändert werden, sodass sich die Symptomatik deutlich zurückgebildet habe.
Aufgrund der Impulskontrollstörung, die sich hauptsächlich in einer erhöhten sexuellen Appetenz bis hin zu Aufsuchen von Swinger-Clubs und Kaufsucht von Luxusartikeln äußerte, sei seine Ehe zerbrochen, seine Frau und er würden aktuell in Trennung leben und über eine Scheidung nachdenken. Auch das Verhältnis zu seinen erwachsenen Kindern habe massiv gelitten.
Neben Psychoedukation und spezifischen psychotherapeutischen Interventionen, die sehr bald zu einer Verbesserung und Stabilisierung seiner psychischen Befindlichkeit führten, wünschte sich Herr L. explizit die Einbeziehung seiner Tochter, die sich einerseits im Verlauf seiner Erkrankung sehr um sein Wohlergehen und auch seine Finanzen gekümmert habe, sich andererseits jedoch überbehütend verhalte und ihm das Gefühl gebe, dass sie mit seiner Lebensweise nicht einverstanden sei.
Die Tochter von Herrn L. berichtete, sehr unter den Verhaltensänderungen des Vaters und den Konflikten zwischen den Eltern zu leiden. Zwar habe sich der Zustand des Vaters deutlich verbessert, aber sie sei zutiefst verunsichert, inwieweit sie dem ehemaligen Versorger der Familie, der sich immer um seine Angehörigen gekümmert habe, wieder vertrauen könne. Sie sei aus der Rolle der Tochter in die der Verantwortlichen für Gesundheit und Finanzen des Vaters geworden; zudem sorge sie sich – im Falle einer Scheidung – auch um die Versorgung ihrer Mutter, die nach der Geburt der Kinder nicht mehr berufstätig gewesen sei und nur einen sehr geringen Rentenanspruch habe. In einzelnen Terminen mit der Tochter sowie einem gemeinsamen Gespräch unter psychologischer Führung konnten die genannten Themen angesprochen, belastende Gefühle geäußert werden und beide in einer schrittweisen Annäherung wieder zu einer Versöhnung geführt werden.
3. Psychologische Beratung und Interventionen für Angehörige
In einer psychologischen Beratung stehen neben den Belastungen durch das Verhalten des Patienten und seine Affektivität (z. B. Antriebslosigkeit, Stimmungsschwankungen, fehlende Krankheitseinsicht, Abhängigkeitsverhalten) vor allem die eigenen psychischen Belastungen im Vordergrund: Existenzängste, Schuldgefühle, Einschränkung eigener Bedürfnisse, Ängste, depressive Verstimmungen. Wichtige Themen sind auch Schwierigkeiten in der Patient-Angehörigen-Beziehung und die Bewältigung von Abschied und Trauer.
Psychologie Interventionen und Angehörigenschulung beinhalten Stressbewältigung, Entspannung und Situations-Analysen im Sinne der kognitiven Verhaltenstherapie. Dabei geht es z. B. darum, zu beobachten, was den Patienten entlastet. Oder es werden hilfreiche Gedankenmuster und alternative Verhaltensweisen erarbeitet, eingeübt und im Alltag erprobt.
Angehörigenarbeit in Gruppen
Besonders zu empfehlen ist die Etablierung von psychologisch moderierten Angehörigengruppen, beispielsweise in Parkinson-Fachkliniken bzw. entsprechenden Rehabilitations-Einrichtungen. In diesem Setting fühlen sich die Angehörigen von den Mitbetroffenen und Gleichgesinnten verstanden und akzeptiert, es können Tipps im Umgang mit dem erkrankten Familienmitglied sowie mit der Erkrankungssituation ausgetauscht werden, Fragen und Unsicherheiten bekommen Raum und das gegenseitige Verständnis führt zu emotionaler Entlastung.
Aus eigener Erfahrung hat sich das Angebot einer offenen Angehörigengruppe sehr bewährt. Diese Gruppen finden z. B. in der Schön-Klinik München Schwabing seit sechs Jahren regelmäßig in einem zeitlichen Rahmen von ca. 1,5 bis 2 Stunden statt. Begonnen wird jeweils mit einem psychoedukativen Vortrag der moderierenden Psychologin zu psychologischen und neuropsychologischen Fragestellungen (z. B. Krankheitsverarbeitung, Entspannung, Demenz, Gedächtnistherapie, Depressionen und Ängste, Partnerschaft und Freizeit). Unterstützt werden wir von Therapeuten und Ärzten aus dem Haus, die jeweiliges aktuelles Wissen aus ihren Fachbereichen vorstellen, sowie vom Sozialdienst. Im Anschluss besteht die Möglichkeit, Fragen zu stellen, Informationen einzuholen und sich auszutauschen.
Die exemplarischen Rückmeldungen der Angehörigen lassen darauf schließen, dass die Gruppen als sehr hilfreich und unterstützend wahrgenommen werden:
„Egal wie das Thema lautet, ich nehme von jedem Termin etwas mit nach Hause, was den Alltag erleichtert.“
„Wie gut, zu hören, dass es anderen genauso geht.“
„Ich freue mich jeden Monat wieder, hier in diese nette Runde zu kommen und wertvolle Tipps und Gedanken mitzunehmen.“
Auszüge aus dem Brief einer Angehörigen: „Sein seelischer Zustand ist auf einem Tiefpunkt, wenn man ihm behilflich sein will, ihm Wege aufzeigt oder kritisiert, wird er ausfällig, wirft mir vor, ihn nicht mehr zu lieben und dass wir ihn am liebsten los hätten. Und er sagt dann auch: Ihr braucht euch nicht um mich zu kümmern. Ich bin eben so – und nicht mehr lange da. Bevor ich ein Pflegefall werde, räume ich mich weg. […]“
„Das Verhältnis zu ihm von meiner Seite hat sich seit Krankheitsbeginn verändert, da mein Mann sich total ver- ändert hat, all das, was sich an ihm geliebt, geschätzt, bewundert habe, verschwindet immer mehr – und das, was bleibt, ist der kranke, misslaunige, hilfsbedürftige Mensch, den ich liebe (anders) und unterstützen möchte.“
4. Ziele und Wege für die gemeinsame Krankheitsbewältigung
Es lassen sich verschiedene Ziele und Wege aufzeigen, wie eine gemeinsame Krankheitsbewältigung erleichtert und unterstützt werden kann. Nicht sämtliche der nachfolgend genannten Punkte lassen sich jederzeit umsetzen. Auch ändern sich die Bedingungen im Verlauf der Erkrankung, sodass ein Thema augenblicklich irrelevant erscheint, vielleicht aber später bedeutsam wird. Stichwortartig lassen sich Maßnahmen zusammenfassen, die von verschiedenen Angehörigen als hilfreich erfahren wurden.
In Bezug auf Betreuung und Pflege sollte man versuchen, die Selbstständigkeit des Patienten so weit wie möglich zu fördern und Tendenzen zum „Helfersyndrom“ und zum „Fürsorgeverhalten“ zu vermeiden. Rituale können angenehm sein und strukturieren den Alltag. Sofern sie aber zu sehr zum Korsett werden, sollte man sich fragen, welche Rituale wirklich nötig sind und wo man mehr Flexibilität zulassen kann. Zu beobachten, was den Patienten entlastet, ist ebenso wichtig wie Phasen zu erkennen, in denen es dem Patienten meist besser geht. Solche positiven Phasen können dann gezielter für angenehme Aktivitäten genutzt werden.
Gezielt sollten auch Hilfen im Haushalt in Anspruch genommen werden, denn selbst mit solch einer Unterstützung sind Betreuung und Pflege des Patienten anstrengend genug.
Anpassung an die erhöhte Belastung
Die Parkinson-Erkrankung bedeutet für Angehörige ganz erhebliche Mehrbelastungen. Eine wichtige Anpassung an diese Mehrbelastungen heißt auch, die eigenen Energien nicht zu früh zu verbrauchen. Dies bedeutet körperlich, Erholungsphasen und Pausen bewusst einzuplanen – zum Beispiel, indem man einfach mal alleine spazieren geht. Psychisch lässt sich eine solche Anpassung in verschiedener Weise erreichen. Da ist zum einen, dass man sich Zeit für eigene Interessen und Hobbys ganz bewusst freihält. Auch eine bewusste und realistische Zeitplanung ist hilfreich. Verschiedene Strategien zur Stressbewältigung wie auch systematische Entspannungstechniken lassen sich zudem unter fachlicher Anleitung erlernen.
Die Anpassung an die erhöhte Belastung bedeutet auch, ein Gefühl der persönlichen Kontrolle zu bewahren, zu entwickeln und zu festigen, um auch von Rückschlägen im Krankheitsverlauf des Patienten nicht überwältigt zu werden.
Negative Gefühle akzeptieren
Ärger, Frustration und Ungeduld über den Partner sind ganz natürliche Reaktionen, die man in angespannten Pflegeund Betreuungssituationen entwickeln kann. Das Problem ist, dass man sich aus der eigenen Grundeinstellung heraus eigentlich nicht erlauben darf, solche negativen emotionalen Reaktionen zu haben. Zu dem Ärger über das Verhalten des Patienten kommt dann noch das schlechte Gewissen hinzu: „Eigentlich darf ich doch gegenüber einem Kranken nicht ärgerlich sein!“ Hier sollte man sich nicht durch die zusätzlichen negativen Gefühle unter weiteren Druck setzen, sondern Ärger und Frustration über den Partner als natürliche Reaktionen bei sich bewusst annehmen. Wichtig bleibt, dass man sich zu einem späteren Zeitpunkt bewusst wieder positiven Seiten zuwendet.
Zur emotionalen Entlastung können Selbsthilfegruppen wirksam genutzt werden. Als entlastend wird auch erlebt, wenn sich Patienten und Angehörige gelegentlich in getrennten Gruppen austauschen. Zu einem späteren Zeitpunkt können sich diese Teilgruppen dann gemeinsam über die behandelten Themen informieren. Die Angehörigengruppen unter professionaler Leitung (s.o.) haben hierfür einen besonderen Wert.
Blickpunkt Kommunikation
Die Parkinson-Erkrankung ist, wie oben bereits ausgeführt, durch besondere Schwierigkeiten in der Kommunikation gekennzeichnet. Verschiedene Regeln aus der Kommunikations-Psychologie lassen sich sinnvoll für das gemeinsame Gespräch und den Austausch mit dem Patienten anwenden. So sollte man bewusst auch über positive Dinge und Erfahrungen sprechen und nicht nur die Beschwerden, die Medikation usw. zum Thema machen. Konflikte sollte man direkt und vor allem konkret ansprechen. „Anklagendes Schweigen“ sollte man möglichst vermeiden. Vielmehr sollte man Gefühle auch sprachlich mitteilen. Dies gilt nicht nur für Patienten, denen es schwerfällt, Freude oder Interesse in ihrem nicht sprachlichen Ausdruck zu zeigen. Auch der Patient wird es besonders schätzen, wenn ihm z. B. gesagt wird: „Das freut mich. Das finde ich interessant.“ Oder: „Das hast Du gut hinbekommen“. Unterstützende statt kritische Rückmeldung fällt gerade dann besonders schwer, wenn man die motorischen Schwierigkeiten des Patienten sieht. Hierbei wirkt eine unterstützende Rückmeldung besonders motivierend.
Zum Bereich der Kommunikation gehört auch, eine positive Arbeitsbeziehung zum behandelnden Arzt aufzubauen. Denn hier ist wieder die besondere Situation der chronisch-progredienten Erkrankung zu sehen, die über lange Jahre gegenseitige Anpassungen erfordert.
Freizeit, Kontakte, Interessen
Zur gemeinsamen Bewältigung der Parkinson-Erkrankung gehört ganz wesentlich die Gestaltung der Freizeit. Hierbei wird einem vielleicht schmerzlich bewusst, dass man viele Dinge, die man sich vorgenommen hatte, nicht mehr oder nur noch unter Schwierigkeiten machen kann. Ganz sicher sollte man eine Überlastung und Überforderung des anderen vermeiden. Vor allem aber sollte man sich auch ganz bewusst mit anderen Dingen als mit der Erkrankung beschäftigen. Gezielt sollte man nach – vielleicht auch wenig aufwendigen – Aktivitäten suchen, die einem Freude machen und mit positiver Stimmung verbunden sind. Es ist erwiesen, dass angenehme Aktivitäten gegen Depression wirken.
Zu den angenehmen Aktivitäten gehören ganz wesentlich auch das Beisammensein und der Austausch mit Freunden und Bekannten. Viele machen die Erfahrung, dass sich mit der Erkrankung soziale Kontakte verändern, meist schwieriger oder weniger werden. Umso wichtiger wird es, bestehende soziale Kontakte zu bewahren, zu pflegen und wenn möglich neue Kontakte zu entwickeln.
Wenn Angehörige für sich Phasen der Erholung planen, so sollten sie die Zeit für sich selbst ohne schlechtes Gewissen einrichten. Das bedeutet auch, eigene Hobbys und Interessen weiterzuführen oder auszubauen. Die Eigenständigkeit, die eine wichtige Voraussetzung für einen stabilen Umgang miteinander bildet, mag vom Patienten zunächst durchaus mit Skepsis betrachtet werden. Dies gilt auch für eigene soziale Kontakte, die z.T. nicht ohne Schwierigkeiten gepflegt werden können. So berichtet eine Angehörige: „Natürlich stürzt mein Mann ausgerechnet dann zu Hause, wenn ich mich mal für eine Stunde mit meiner Freundin im Café treffe. Oder er hat sich in der Zeit, in der ich weg war, mit dem Messer geschnitten, obwohl er doch nicht mit den scharfen Messern hantieren sollte. Da überlegt man schon, ob man ihn überhaupt noch alleine lassen kann.“ Generell sollten Angehörige jedoch ohne Angst vor Eifersucht ihre eigenen sozialen Kontakte pflegen.
Seelische und körperliche Stabilität
Angehörige brauchen ganz erhebliche seelische und körperliche Stabilität für eine erfolgreiche Betreuung. Diese Stabilität für sich selbst muss immer wieder neu gewonnen werden, schließlich ist sie auch ganz im Sinne des Patienten. Nur so können die schwierigen Situationen bewältigt werden, die mit der Krankheit verbunden sind.
Autorin | Autor |
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Dipl.-Psych. Stefanie Tucha Leitung Neuropsychologie Schön Klinik, München-Schwabing www.schoen-klinik.de | Prof. i. R. Dr. Heiner Ellgring Diplom-Psychologe Inst. für Psychologie, Univ. Würzburg ellgring@uni-wuerzburg.de |
Quelle: dPV-Nachrichten | Leben mit Zukunft | Nr. 155 – 4/2020