„Verwandte von Menschen, die an Morbus Parkinson erkrankt sind, weisen ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Angsterkrankungen auf.“
Zu lesen war dies im Jahr 2007 als zusammenfassendes Ergebnis einer US-Studie. Wissenschaftler hatten 1000 Verwandte ersten Grades von 162 Parkinson-Patienten untersucht. Wie wir aus einer anderen Studie wissen, beginnen die Belastungen bereits in frühen Stadien und setzen sich um ein Vielfaches bis in die Spätstadien der Erkrankung fort.
Warum ist die Belastung von Angehörigen bei dieser Krankheit so ausgeprägt?
Diese Krankheit, die sich im motorischen Bereich durch eine allgemeine Verlangsamung aller Bewegungsabläufe, durch Muskelsteifheit mit mühsamen Bewegungen in den großen Gelenken und möglicherweise durch ein Zittern äußert, ist von Beginn an nicht nur für den Betroffenen selbst von Bedeutung, sondern auch für die ganze Familie, insbesondere für die „Pflegenden“ in der Familie. In der Regel sind dies die Ehepartner und/oder die Kinder. In vielen Gesprächen mit Angehörigen wird auch deutlich, dass es eben nicht nur die Bewegungsstörungen sind, sondern auch und manchmal sogar insbesondere die Veränderungen im seelisch-geistigen Bereich. Besonders zu erwähnen ist dabei die depressive Verstimmung des Patienten mit Rückzugstendenz, Ängstlichkeit mit einer ausgeprägten Neigung zum „Klammern“, aber auch die auftretende Demenz mit Trugwahrnehmungen bis hin zur Psychose.
Oft wird besonders von betroffenen Ehefrauen der Fehler gemacht, die Patienten vorzeitig von allen Dingen des Alltags zu entlasten. Das funktioniert gut bei akuten Erkrankungen wie einer Grippe oder einer Lungenentzündung und dort ist es sicher auch angebracht. Aber bei einer Erkrankung, die einen chronisch fortschreitenden Verlauf zeigt, die weder gestoppt noch geheilt werden kann, zeigen sich sehr bald Grenzen in der seelischen und auch körperlichen Belastbarkeit. In der Regel dreht sich nach einer mittleren Krankheitsdauer der Alltag zu einem erheblichen Teil um die Krankheit. Wenn eine Fallneigung vorliegt oder Off-Phasen auftreten, in denen sich der Patient nicht mehr allein versorgen kann, so sind die Partner in einer „Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft“, wie man sie im beruflichen Bereich keinem Menschen zumuten würde. Wenn Schlafstörungen dazu kommen, ist auch der Nachtschlaf des Angehörigen beeinträchtigt, da die Patienten häufig Hilfe z.B. beim Gang zur Toilette benötigen oder sie sich im Bett nicht mehr allein umdrehen können. Manche Angehörige haben, wenn sie mit dem Patienten in der Klinik ankommen, jahrelang schon keine Nacht mehr durchgeschlafen. Der Patient hat die Möglichkeit, den fehlenden Nachtschlaf am Tag nachzuholen, der Angehörige in der Regel nicht. Es gibt weder einen Feierabend, noch ein Wochenende, noch Urlaub und keine Aussicht auf Veränderung.
Eine solche Aufgabe ist Kräfte zehrend und will gewürdigt sein. Aber auch da gibt es Mängel. Trotz aller professionellen medizinischen und pflegerischen Versorgung ist der Partner der wichtigste Rückhalt. Für den Rest der Familie ist es normal, dass die Patienten von ihrem Ehepartner versorgt werden. Nur ein kleiner Teil erhält spontane Unterstützung. Der Betroffene selbst ist in seiner Mimik und Gestik krankheitsbedingt deutlich eingeschränkt, so dass die sonst in einer Ehe normalen Dankesbekundungen durch ein Lächeln oder ein Leuchten in den Augen immer weniger werden. Einige Angehörige haben sogar das Gefühl, dass die Patienten „engstirniger“ und „egoistischer“ werden und nur noch an sich denken. Die Bedürfnisse der pflegenden Partner zählen nicht mehr. Es wäre deshalb wünschenswert, Belastungen von Beginn an mehr zu verteilen.
Die Angehörigenarbeit hat die Aufgabe, die Pflegenden zu animieren, von Beginn an über mögliche Hilfsangebote durch andere Familienmitglieder und/oder durch professionelle Helfer nachzudenken und diese Hilfe dann auch anzunehmen.
Um an Informationen über Aufklärungs-, Hilfs- und Entlastungsmöglichkeiten zu kommen, sollten neutrale Beratungsstellen bei den Krankenkassen, den Sozialämtern, den ambulanten Pflegediensten vor Ort und vor allem bei der Deutschen Parkinson-Vereinigung genutzt werden.
Erhaltung der Selbständigkeit der Patienten
Die Patienten wiederum klagen häufig darüber, dass sie zu Hause „entmündigt“ werden. Da alles lange dauert, zum Beispiel auch Antworten auf Fragen oder Entscheidungen, werden diese dem Patienten oft abgenommen, nicht immer zu dessen Freude und in seinem Sinne. Die ohnehin schon beschriebene Rückzugstendenz der Patienten wird dadurch weiter vertieft und sie werden zusätzlich in eine unfreiwillige Passivität gedrängt. Ein gutes Beispiel dafür sind die Gespräche mit Ärzten. Etwa bei jedem dritten Aufnahmegespräch von Patienten, bei denen die Ehepartner anwesend sind, antwortet spontan der Angehörige auf die Fragen des Arztes, nicht der Patient. Unabhängig davon, dass dieses Vorgehen – wie oben bereits beschrieben – für den Patienten nicht förderlich ist, nimmt es dem Arzt einen wesentlichen Aspekt seiner intuitiven Wahrnehmung.
Im normalen Alltagsleben werden dem Patienten – oft aus Ungeduld – bestimmte Tätigkeiten abgenommen, die er durchaus noch selbst ausführen könnte, wenn er nur genügend Zeit hätte. Auch dies wirkt sich negativ aus – es ist ja eigentlich gut gemeint – aber führt eher zu einer Demotivierung des Patienten. Der richtige Weg wäre, dem Betroffenen ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen und ihn dabei zu unterstützen, sein gestecktes Ziel zu erreichen. Die Aufgabe besteht nicht darin, dem Patienten Arbeit abzunehmen, sondern eher darin, ihm zu helfen, so lange wie möglich selbständig zu bleiben.
Aufklärung der Angehörigen
Unverständnis erfahren Betroffene meist in dem Stadium der Erkrankung, in dem sogenannte gute und schlechte Phasen der Beweglichkeit auftreten. Innerhalb von Sekunden kann ein bis dahin gut beweglicher Patient völlig hilflos werden. Nicht selten werden sie dann verdächtigt, zu simulieren, was wiederum zu Frustration auf beiden Seiten führt. Angehörige sollten sich darüber im Klaren sein, das diese Schwankungen in Abhängigkeit von der Wirkung der Medikamente auftreten können, und für diese Phasen Verständnis zeigen. Möglicherweise benötigen die Patienten in diesen Phasen Hilfe, obwohl sie sonst selbständig sind.
Aufgabe der Angehörigenarbeit ist es hier, die Pflegenden über das Wesen und die Besonderheiten dieser Erkrankung aufzuklären. Ein Angehöriger, der die Krankheit nicht kennt, ist von vornherein überfordert.
Im Rahmen der Angehörigenarbeit sollten die Pflegenden außerdem dazu angeregt und ermuntert werden, sich einmal in der Woche mit ihren Partnern zusammen zu setzen, um Probleme, die in der vergangenen Woche im Zusammenhang mit der Krankheit aufgetreten sind, in Ruhe miteinander besprechen zu können. Es löst sich nicht alles in der Luft auf, auch wenn wir alle uns das manchmal wünschen. Mitten im Alltagsleben – nämlich da, wo die Luft brennt – ist meist nicht ausreichend Gelegenheit dafür. Um nichts zu vergessen, sollte ein Tagebuch über besonders belastende Situationen geführt werden.
In Anwesenheit des Betroffenen haben Angehörige manchmal nicht den Mut, über Gefühle und persönliche Belastungen zu sprechen. Sie haben den Eindruck, den Partner damit noch zusätzlich zu belasten. Aus diesem Grund führen wir in der Klinik spezielle Angehörigen-Gesprächsgruppen durch, in denen ein Therapeut nur für die Angehörigen da ist. Frei von selbst aufgebauten äußeren Zwängen ist es für viele leichter, ihre persönlichen Probleme im täglichen Zusammenleben zur Sprache zu bringen und gemeinsam kann man dann nach Lösungen suchen. Hier ist insbesondere auch der Erfahrungsaustausch zwischen den Angehörigen von Vorteil. Häufig hat einer der Anwesenden schon das gleiche Problem gehabt und weiß bereits eine praktikable Lösung. Hier sind insbesondere die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln oder die Teilnahme an besonderen Therapieverfahren zu nennen.
Angehörige haben für sich selbst oft keine Zeitreserven mehr. Da sie sich rund um die Uhr um ihren Partner kümmern müssen, bleiben die eigenen Bedürfnisse und Beschwerden auf der Strecke. Belastung und Beschwerden beeinflussen sich jedoch oft gegenseitig und auf diesem Weg kommt es oft zu einer völligen subjektiven und objektiven Erschöpfung, auch „burn-out-Syndrom“ genannt.
Angehörigenarbeit bedeutet, die Betreuenden auf diesen Teufelskreis aufmerksam zu machen und ihnen nahe zu legen, in diesen Fällen unbedingt professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine psychotherapeutische und vielleicht auch medikamentöse Behandlung kann den Pflegenden helfen, wieder aufzuleben und neue Kraft für die kommenden Jahre zu schöpfen.
Stand August 2012 | Dr. med. Ilona Csoti, Chefärztin der Gertrudis-Klinik, Leun-Biskirchen