Senioren verzweifeln am Impf-Telefon

Wer über 80 Jahre alt ist, soll als Erster gegen Covid-19 geimpft werden. Doch der Weg zu einem Impftermin führt über eine komplizierte Internetseite und eine überlastete Hotline. Der Landesseniorenrat mahnt Nachbesserungen an.

von Eberhard Wein

Stuttgart. Immer wieder hat Renate Wolf die 116 117 gewählt. „Seit dem 27. Dezember probiere ich das“, sagt die 85-jährige Fellbacherin. Da war die bundesweite Nummer freigeschaltet worden. Doch immer wieder flog sie aus der Leitung, probierte es erneut, wurde schließlich von einer Computerstimme bis zur richtigen Stelle navigiert. Doch dann kam nur noch Dudelmusik. „Nach einer halben Stunde habe ich aufgelegt.“

Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Gegenmaßnahmen zerren an den Nerven. Wer allerdings wegen seines Alters zur Risikogruppe gehört und deshalb zu den Ersten zählt, die geimpft werden sollen, steht momentan in einem zusätzlichen Nervenkrieg. Bewohner von Pflegeheimen erhalten automatisch Besuch von so genannten Impfteams. Wer noch zu Hause wohnt und sich dort selber versorgt, der ist hingegen auch bei der Vereinbarung eines Impftermins auf sich selbst gestellt.

„Viele fühlen sich allein gelassen“, sagt der Vorsitzende des Landesseniorenrats (LSR), Uwe Bähr. In einem Schreiben an die Task Force Impfen und das Stuttgarter Sozialministerium, das unserer Zeitung vorliegt, weist die landesweite Seniorenvertretung auf zahlreiche Stolpersteine hin, denen impfwillige Hochbetagte gegenüberstehen. Bähr, der in der kommenden Woche seinen 81. Geburtstag feiert, hat schon selbst entsprechende Erfahrungen gemacht.

„Die Anmeldung über die Hotline ist nicht einfach.“ Auch er habe stundenlang Dudelmusik anhören müssen, ehe er bei einem seiner vielen Versuche schließlich den obligatorischen Code erhalten habe. Doch die Aufnahme der 15-stelligen Zahlen- und Nummernkombination führe immer wieder zu Problemen. Viele Hochbetagte litten unter Beeinträchtigungen der Augen und Ohren. „Im schlimmsten Falle haben diese Personen den Termin, aber einen nicht stimmigen Code“, heißt es im Schreiben des LSR.

Eigentlich sollen die Termine vor allem über das Internet vereinbart werden. Allerdings verfügten viele Hochbetagte weder über Smartphone oder Tablet noch über die notwendigen Fertigkeiten. Und auch versierte Computernutzer scheiterten. „Wer zu lange braucht, um die Maske auszufüllen , stellt am Ende fest, dass der gewünschte Termin inzwischen schon wieder vergeben ist“, sagt Bähr. Auch sei das Programm unflexibel. „Ich konnte keinen gemeinsamen Termin für mich und meine Frau vereinbaren.“ Sei man schließlich erfolgreich, könne die Anreise zum Termin zum nächsten Stolper­stein werden. Häufig lägen die Impfzentren nicht in der Innenstadt. Wer selbst auf dem Land wohnt und nicht mehr Auto fährt, sei mitunter stundenlang unterwegs oder müsse das Taxi nehmen. „Da fragen sich manche, wer dafür bezahlt“, sagt Bähr.

Auch mancher Stadtbewohner muss weite Wege zurücklegen, weil in den Landkreisen nur jeweils ein Impfzentrum vorgesehen ist. „Ich muss von Konstanz nach Singen fahren“, sagt Burghard von Sondern. Ihm sei das noch möglich, aber nicht seiner Frau, die er pflege . Er habe aber bisher auch keinen Termin erhalten. „Mit dem Internet stehe ich auf Kriegsfuß“, gibt der 87-Jährige zu.

In einem Brief an den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) hat von Sondern seinem Ärger jetzt Luft gemacht. In anderen Bundesländern wie etwa Berlin würden alle Betroffenen von den Einwohnermeldeämtern angeschrieben und mit Terminvorschlägen versorgt. So etwas wünsche er sich auch für Baden-Württemberg. „Es kann nicht sein, dass eine solch große Bevölkerungsgruppe allein gelassen wird.“

Von den 700 000 Menschen über 80 im Land leben nur 100 000 in Pflegeheimen. Die Stadt Konstanz kündigte inzwischen an, alle Über-80-Jährigen anzuschreiben und ihnen Hilfestellung bei der Terminvereinbarung anzubieten. „Die Stadt Konstanz ist zwar nicht für die Impfungen zuständig und kann auch keinen Impfstoff beschaffen. Wir wollen aber mit unseren Mitteln und im Rahmen unserer Möglichkeiten unseren Bürgern helfen“, sagt Oberbürgermeister Uli Burchardt (CDU).

Der Fellbacherin Renate Wolf hat übrigens mittlerweile ihr Enkelsohn einen Impftermin verschafft. Der Medizinstudent brauchte dafür am Laptop aber auch mehrere Anläufe. In der Nacht zum Freitag war er schließlich erfolgreich. „Das ist wie ein kleiner Triumph.“

Quelle: Stuttgarter Zeitung
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.terminvergabe-in-der-kritik-senioren-verzweifeln-am-impf-telefon.3fb0d3db-9ceb-431b-8933-511d2af2a969.html