„Virons le virus!“ Lasst uns das Virus loswerden!

Datum: 13.10.2021
Uhrzeit: 00:00 - 00:00
Ort: online

Referent Dr. Paul Rauchs ist Psychiater und Psychoanalytiker in Luxemburg und interessiert sich besonders für Wissensbereiche, die mit seiner Arbeit und Praxis zusammenhängen, wie Kunst und Literatur, Philosophie und Geschichte. Er befasst sich gerne mit diesen Themen und hat dazu zahlreiche Artikel in der allgemeinen und der Fachpresse veröffentlicht, sowohl für Zeitungen und Zeitschriften als auch für Radiosender. Er ist ein genauer Beobachter des politischen, kulturellen und sozialen Lebens.

Medizin und Politik: primum non nocere

Medizin ist eine Kunst die sich der Naturwissenschaft bedient. Der Arzt steht zur Biologie, Physik, Chemie wie der Politiker in Pandemiezeiten zur Medizin.

Eine zu süße Medizin wird nicht ernst genommen, eine zu bittere wird überhaupt nicht genommen. Um eine gute Akzeptanz der Medizin und der Gesetze zu erreichen (gute Compliance) muss der Mediziner wie der Politiker mit dem Lustprinzip und dem Realitätsprinzip rechnen. Ein zu kompliziertes Rezept wird schlecht vom Patienten befolgt, zu strenge und sinnarme Gesetze werden schlecht vom Bürger eingehalten.

Medizin hatte immer schon mehr mit Politik zu tun, als sie wahrhaben wollte. Der französische Philosoph Michel Foucault sprach von „le biopouvoir“. Auch die WHO ist nicht frei von politischem Druck und Machtverhältnissen, welche nicht unschuldig waren am (zu) langen Weg der simplen Infektion über die Epidemie bis endlich hin zur Epidemie. Die Psychiatrie verdankt die Diagnose Schizophrenie mit ihren heute noch gültigen Kriterien der politischen Situation in Bayern die zur Entmachtung König Ludwigs des Zweiten führte. Homosexualität wurde noch im 20. Jahrhundert von der WHO als Krankheit bezeichnet.

Die Pandemie führt zu einem cornelianischen Konflikt zwischen Politik und Medizin. „Müssen wir die Großmutter oder die Wirtschaft retten ? „, fragte ein Leitartikler einer kanadischen Zeitung. Er übersah dabei, dass wir die Wirtschaft retten müssen um die Grossmutter retten zu können. Tatsächlich tötet das Virus viel mehr Grossmütter in armen als in reichen Ländern. Die Wirtschaft retten heisst aber auch den sozialen Zusammenhalt retten und ketten.

Und deshalb ist es gefährlich die Virologen „aus der Mottenkiste zu holen“, wie es ein langjähriger, ehemaliger Luxemburger Gesundheitsminister mir gegenüber ausdrückte. Denn die „Mottenkiste“ könnte leicht zur Pandorabüchse werden. Virologen und Epidemiologen sind keine Kliniker, sie behandeln keine Patienten, sondern Populationen. Die wir riefen, die Geister, könnten zu Virotoyas ausarten. Wenn die Politik die Gesundheitspolitik an die Medizin „outsourcst“ wird das Volk zur zählbaren Masse die als Reaktion zu populistischen Querdenkern überläuft. Auch in Pandemiezeiten muss die Politik ihre Verantwortung übernehmen und sich der Medizin bedienen, ohne sie zu bedienen. Das Vorsichtsprinzip darf nicht nur medizinisch, sondern muss auch sozial, wirtschaftlich und psychologisch ausgelegt werden. Ansonsten wird die Behandlung zur Iatrogenie führen, also eine schlimmere Krankheit hervorrufen als die die sie eigentlich bekämpfen soll. Ivan Illich sah die größte Gefahr für die Gesundheit in dem zwanghaften Streben nach Gesundheit. Dieses wird durch die Massenmedien publikumswirksam geschürt und führt zur individuellen und sozialen Hypochondrie. Der Mensch empfindet sich letztlich als lebender Algorithmus. So wie ein aus der Kontrolle geratenes Immunsystem zu autoimmunen Krankheiten führt, so kann ein übersteigertes Verhaltens- und Kontrollsystem in der Hygiene zur „Autoalgorithmisierung“ führen. Der Mensch vergisst zu leben, um im Rhythmus des Algorithmus zu überleben. Der Tod ist nicht die Folge einer „négligeance“ oder eines Fehlers des Patienten, des Arztes oder der Gesellschaft, sondern die natürliche Folge der Geburt. Seit der Moderne des 17. Jahrhunderts will der Staat, sagt Michel Foucault, das Leben schützen, statt den Bürger.

Gerade in diesen Pandemiezeiten, müssen wir Mediziner uns also vor einem medizinischen Staatsstreich hüten und dürfen uns nicht instrumentalisieren lassen. Wir wollen jetzt nicht mit Ivan Illich vor der antichristlichen Promethisierung des Menschen warnen. Wir teilen auch nicht Heideggers antisemitische Furcht vor der Technik und der Moderne. Wir wissen aber, dass die Medizin nicht alles kann, nicht alles weiß … und auch nicht alles darf. Der französische Analytiker und Neofreudianer Jacques Lacan bezeichnete den Psychoanalytiker als „sujet supposé savoir“, als Subjekt dem der Analysant ein Wissen zuschreibt. Der Mediziner ist in den Augen der politischen und zivilen Gesellschaft dieses „sujet supposé savoir.“ Die Psychoanalyse funktioniert durch den Mechanismus der Übertragung die auf diesem supposierten Wissen beruht. In der Gesellschaft muss sich die Medizin dieser Übertragungstechnik bedienen, nicht um zu führen, sondern um zu begleiten und der politischen Macht zu der wissenschaftlich begründeten Legitimität zu verhelfen, durch die sie eine gute Compliance der anti-Covidgesetze erreicht, ohne in eine medizinisch pseudolegitimierte Juntadiktatur zu verfallen.

Der Mauer(n)fall :

Mit dem Berliner Mauerfall und dem Ende des kalten Krieges ist das Feindbild verschwunden und damit auch ein Stück Identität. Carl Schmitt, ein heute noch vielgelesener Jurist trotz schlimmster Nazivergangenheit, lehrte dass jede Staatsorganisation Feinde braucht, statt, wie in unseren heutigen Demokratien, politische Gegner. Mit dem Virus ist das Feindbild wieder aufgetaucht, wie es die kriegerische Sprache der Mediziner und Politiker zur Genüge beweist. (Das Virus bekämpfen, Widerstand organisieren, den Krieg gegen die Krankheit gewinnen, Opfer verlangen, usw…).

Die Pandemie hat eine Gesellschaft heimgesucht, die viele Mauerfälle kannte, die viele Grenzen abschaffte: die EU schaffte Landesgrenzen ab, das Flugzeug schaffte die räumlichen Grenzen ab, die moderne Medizin lässt uns fragen wo das Leben anfängt und wo es aufhört, die Wissenschaft löst die Grenzen zwischen Mensch und Maschine auf (künstliche Intelligenz), der Antispezimus diejenigen zwischen Mensch und Tier. Freud hob die Grenzen zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten auf, die Feministen schafften die klassischen Mann- und Frauenrollen ab, cf auch die Genderproblematik in Biologie, Gesellschaft und Sprache usw, usf. Die Grenzen fielen, und öffneten damit neue Freiheiten. Die Freudsche Psychoanalyse basierte auf einer Gesellschaft von Tabus, Geboten und Verboten, die zu Schuldbewusstsein führte. Unsere heutige Gesellschaft ist diejenige der Freiheit die zu Identitätsfragen, Unsicherheit und Angst führt. Die Pandemie machte neue Gebote und Verbote nötig, die die Gesellschaft in einer ersten Phase willig, fast freudig annahm. The virologists willing executioners, konnte man fast sagen. In einer zweiten Phase wurde es des Guten aber dann doch zuviel und die Querdenker betraten die Bühne. Ein komischer Name übrigens, denn eigentlich ist Querdenken ja etwas Positives: die großen Künstler, Wissenschaftler, ja Politiker sind auch alle Querdenker. So wie der französische Philosoph René Descartes, der an allem zweifelte, vor allem aber zuerst an sich selbst und seinen Sinnen. Die aktuellen Querdenker aber sind keine Zweifler, sie haben Gewissheit, dass man sie betrügt. Und sie vergessen, dass Descartes der Begründer des modernen Dualismus ist: Die materielle Maschine des Körpers vs. die immaterielle Seele. All den falschen Querdenkern möchte ich ins Stammbuch schreiben: Die sanitären Verbote und Gebote richten sich an die körperliche Maschine, die richtigen Freiheitsbeschränkungen der Diktatoren richten sich dagegen an die immaterielle Seele.

Der moderne, orientierungslose Mensch fällt in einem gewissen Grade in die Kindheit zurück, er macht, im freud’schen Sinne, eine Regression zu seinem früheren magischen Denken, das sich an Transitionsobjekten und Fetischen orientiert. Die täglichen Pandemiestatistiken, die Diagramme und Testresultate haben eine solche Fetischfunktion. Sie wurden im Fernsehen fast täglich von der guten Mutter (dem Bundeskanzler) und dem strafenden Vater (dem Gesundheitsminister) vorgetragen.

Im Dialog mit François Alesch versucht Paul Rauchs, anhand seines eben erschienenen Buches Virons le virus (Capybarabooks, Luxemburg, 2021) diesen Fragen nachzugehen.

synapse-vienna.net

Info für Ärzte: Diese Veranstaltung erfolgt in Kooperation mit der Privatklinik Goldenes Kreuz (PremiQuaMed Gruppe). Sie wird bei der Österreichischen Ärztekammer als DFP-Fortbildung eingereicht (1 Punkt).powered by Crowdcast